Vom Treiben der Bilder

Text zur Ausstellung „autumn anemones“ von Sabine Arlitt, 2013

Doris von Stokar sammelt Sinneseindrücke, Tag für Tag, rituell und leidenschaftlich -in ihrer nächsten Umgebung, dem wild-verwunschenen Garten, auf Spaziergängen im wandelnden Wechsel der Gehrhythmen, auf Reisen in pulsierende Metropolen. Sie speichert Stimmungen, die sie in ihr Atelier trägt. Im Schaffen der Zürcher Zeichnerin hat sich eine bedeutsame Wandlung, eine buchstäbliche Umkehrung, ereignet. Legte sie früher zarte Liniengespinste als verdichtete filigrane Linienverläufe auf das Papier, so ist nun das Material selbst, Papier und Graphit, zum mitformenden Bestandteil des Bildfindungsprozesses geworden.
Geblieben sind motivische  Anklänge an Spindeln und Spiralen, Samenstände und galaktische Lichter. Doch hat die mit der neuen Technik einhergehende Transformation die Assoziation an Abbildhaftes noch stärker als früher zu sich auflösenden Erinnerungsbildern werden lassen. Im Motiv der Blume als Metapher für die Prinzipien  des Lebens wird das ihm innewohnende Wandlungsgeschehen nun selbst als dynamischer Prozess erlebbar.

„autumn anemones“ nennt Doris von Stokar ihre neuste Werkserie, die sich medial und spannungsreich zwischen Malerei und Zeichnung bewegt. Zwischen Schwarz und Weiss entfaltet sich eine Graustufenmalerei, die zu einer Lichtmalerei mutiert. Die Arbeit im Atelier, ein meditatives Einstimmen, beginnt mit dem eigenhändigen Herstellen des Graphitstaubes, indem Doris von Stokar einzelne Graphitstifte in ruhiger repetitiver Bewegung abschmirgelt. Das gewonnene, bei kleinstem Luftzug sich verflüchtigende schwarze Pulver reibt sie in mehreren Schichten mit Stofflappen nuancenreich in das weisse Papier. Eine samtig verdichtete Materialpräsenz liegt auf dem Boden zur Bildaktivierung bereit.

Mit dem Radiergummi holt Doris von Stokar schwebend-transparente Formen, lineare Verästelungen und wellenartige Modulationen aus dem Graphitgrund hervor. Im Abtragen strömt Licht ins Dunkel. Als am nächsten erweist sich, was in grösster Entfernung liegt. Eine ganz eigene Intensität durchwirkt die mit Graphitstiften unterschiedlicher Härtegrade zusätzlich differenzierten Zeichnungen, die etwas vom Zauber des Magischen in sich tragen.
Doris von Stokar spricht vom morbiden Charme des Vergänglichen, wenn sie den Wechsel der Samenstände der Herbstanemonen von leblos anmutenden Verholzungen hin zu schneeflockenartigen Gespinsten beschreibt. Ihre Zeichnungen bergen die Atmosphäre von Stummfilmen in sich. Auch an Fotogramme, Röntgenaufnahmen oder Aufnahmen unter Wasser lässt sich denken.

Die Herbstanemonen, diese natürlichen Boten einer fünften Jahreszeit, entfalten ihre Pracht im Halbschatten und in einem Augenblick versöhnlicher Spannungsverhältnisse zwischen nicht mehr und noch nicht, zwischen vergehen und entstehen. Auf die Kraft der eigenen Mittel bauend, wozu neben dem vage tastenden Sensorium die Einbindung des Potentials der verwendeten Materialien gehört, schafft Doris von Stokar visuelle Ereignisräume als offene Bedeutungsräume. Im entleerenden Ausradieren füllt sich die Zeichnung wesenhaft – fortwährend.

 

Ausstellungskatalog „autumn anemones“ 2013 Galerie sam scherrer contemporary

 

 

Seismographische Spurensuche im Graphitstaub

Sabine Arlitt, 2009 (Textauszug)

Linien verdichten sich –  Zeit speichernd – zu transparenten körperhaften Gespinsten.
Die zarthäutigen, zuweilen wie hingehaucht anmutenden Zeichnungen von Doris von Stokar verbinden Fragilität mit Verletzlichkeit, Transparenz mit Vergänglichkeit. Sie schafft mit ihren Zeichnungsinstallationen eine Art Raumklima. Das Geschehen im Dazwischen –  im Uebergang eben, zwischen Formation und Auflösung –  eröffnet mentale Räume. Das Potential der in den Zeichnungen angelegten visuellen Metamorphosen und virtuellen Verschmelzungen, das Potential an Ereignissen und sich verändernden Umständen lösen Verbindungen nach freiem Empfinden aus. Alles ist in Schwingung versetzt. Brüste mutieren zu Augen, Körper hören. Galertartige Organismen, die im Wasser zu treiben scheinen, suggerieren eine über die Elemente und Aggregatzustände sich hinwegsetzende Verbundenheit mit den filigranen Schirmchen des Löwenzahns, die durch die Lüfte fliegen. Schmetterlinge tauchen als Vögel der Nacht und des Tages auf. Galaktische Lichter durchbrechen kosmische Dunkelheit. Zeichnen ist eine zutiefst fruchtbare Angelegenheit.

Das altgriechische Wort für Schmetterling bedeutet: Hauch, Atem, Seele. Doris von Stokar gibt in ihren Zeichnungen energetischem Treiben einen Ort – eng auf den eigenen Körper bezogen, weiblich, erotisch.

 

 

Martin Kraft , Kunsthistoriker (Textauszug)

Doris von Stokar erfasst ihre alltägliche Umgebung mit der Neugierde und Präzision eines Naturforschers. Oberflächenstrukturen, seien es pelzige, fasrige oder wie auch immer geartete, gibt sie mit fast greifbarer Sinnlichkeit wieder – und nimmt doch alles Sinnliche insofern wieder zurück, als sie auf Farbe verzichtet, sich auf ein einziges Medium beschränkt, den Bleistift, der aber natürlich eine Vielfalt von differenziert eingesetzten Bleistiften ist. Sie selber fühlt sich als Zeichnerin wie eine Art Filter, durch den die Erscheinungen hindurchgehen, um zu etwas zu werden, das sie nicht mehr benennen kann. Dabei ist dieser Prozess bei ihr, die vorzugsweise in Serien arbeitet, mit dem vollendeten Blatt noch nicht unbedingt abgeschlossen. Was nach einer solchen Filterung zurückbleibt, könnte man als das Wesen, beispielsweise einer Pflanze, umschreiben. Oder es liesse sich von Verdichten, von Dichtung sprechen.
Denn diese Zeichnungen haben tatsächlich eine Verwandtschaft mit Lyrik, wo ja gerade dort, wo ein alltägliches Phänomen mit wenigen Worten genau erfasst wird, diese Worte sich auf einer ganz anderen, unalltäglichen Ebene bewegen.

Intensiv thematisiert die Künstlerin den Körper, den eigenen Körper. „Zeichnen ist für mich wie eine sinnliche, traumwandlerische Aufnahme des eigenen Körpers, Auseinandersetzung mit ihm, der eigenen Weiblichkeit, der Rolle der Frauen, des Menschen, der Welt. Bilder, Gegebenheiten, Details, die mich seltsam berühren, lassen sich auf fast intuitive Weise auf Papier nieder – als Zeichnung: mit lyrischer Zeichensprache das weibliche Körperempfinden ausdrücken.“

Wesentlich für die Zeichnungen von Doris von Stokar ist ja die Art ihrer Entstehung, die Lebenshaltung, die sie entstehen lässt und die sich in einen betonten, fast anachronistischen Gegensatz zu einer von der Technik beherrschten Welt stellt. Sie könnte ja heutzutage mit Naturfotografien und deren nachträglicher Bearbeitung am Computer sehr viel rascher und bequemer zu künstlerischen Ergebnissen kommen, die vielleicht auf ihre Weise auch zu überzeugen vermöchten und doch mit dem, was wir hier sehen, sehr wenig zu tun hätten. Denn was wir in diesen Blättern sehen oder fühlen oder eben beides zusammen, ist nicht zuletzt die Zeit, die in sie eingeflossen ist: eine Zeit des geduldigen Beobachtens und des stillen Hineinhorchens in den eigenen Körper, schliesslich die Zeit der langsamen handwerklichen Ausführung, die mit dem teils vielschichtigen Auftragen und gelegentlich auch wieder Abtragen der Bleistiftschichten unwillkürlich an die altmeisterliche Malerei mit Lasuren erinnern mag, Zeit, die es sich
lohnte für die Kunst zu opfern – eine Zeiterfahrung alles in allem, die sich, so ist zu hoffen, auch auf die Betrachtenden überträgt.

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Jörg Stummer, Galerist

Die Zeichnungen von Doris von Stokar eröffnen sich nicht auf den ersten Blick. Sie wirken zurückhaltend, bescheiden, unprätentiös und leise. Sie sind ganz selbstverständlich einfach da. Das Bleistiftgrau und die filigrane Zeichentechnik schaffen eine vielschichtige Stimmung, die nach und nach auf Betrachter und Betrachterinnen wirkt. Und sie lassen viele Interpretationen offen: Kleider, Häute, Weiblichkeit, Erotik, Spuren, Träume, Identität, Erinnerung und Geheimnis. Oder Zauber und Stille.

Die Zeichnungen entstehen in Zyklen und kreisen ein Thema langsam ein – zum Beispiel die „Brustblätter“. Man fragt sich, welche Aussage sich hinter den wehrhaften und zugleich beschützenden Brüsten mit Titeln wie „Brustkette“ oder „Brustspindeln“ verbirgt – reizvoll und formschön sind sie aber auf jeden Fall.

Bei den Arbeiten von Doris von Stokar stellt sich die Frage nach der Aussage immer wieder neu und stets auch individuell. Die Aussage von Frank Stella, „what you see is what you see“ muss hier aber auch ergänzt werden mit der Feststellung „what you feel“. Denn so zurückhaltend die Zeichnungen unter dem Titel „Süssdolde“und „Pollenflug“ auch sind, sie wecken Gefühle jenseits von gängigen Klischees und beeindrucken ganz besonders in ihrer stillen Intensität.

www.galerie-stummer.ch